Genesis P-Orridge: Die Möglichkeiten des Menschseins
Als Throbbing Gristle sich 1981 auflöste, gründete Genesis P-Orridge begleitend zu seiner neuen Band Psychic TV einen "echten" Kultus namens Thee Temple ov Psychick Youth, dessen spirituelle Lehren sich wesentlich an der Sexualmagie des satanischen Großmeisters Aleister Crowley orientierten; wobei P-Orridge die Crowleysche Lehre dahingehend erweiterte, dass er jenen Formen des Sex und Gruppensex besondere magische Kraft zuerkannte, bei denen gepiercte Geschlechtsteile eingesetzt wurden.
Darin liegt – neben der künstlerischen und der musikalischen – seine dritte große Bedeutung für die Geschichte der Popkultur: Genesis P-Orridge machte eine größere Menge von Menschen mit Piercing bekannt. Die Idee, dass man sich Ringe und sonstigen Schmuck an jeder beliebigen Stelle durch die Haut treiben kann, stammte aus der kalifornischen Lederschwulenszene der Zeit. Der britische Schmuckmacher Alan Oversby alias Mr. Sebastian brachte die Technik nach London, wo er 1976 sein erstes Studio eröffnete. P-Orridge war der erste Musiker, an dem er sich ausgiebig ausprobieren durfte, bis hin zum Piercing der Eichel. "Ich habe in meinen Newslettern immer wieder das Piercen gepriesen", sagte P-Orridge im Gespräch, "und wenn sich Leute dafür interessierten, habe ich sie zu Mr. Sebastian geschickt."
Als Psychic TV ihre ersten Bühnenauftritte – etwa 1983 beim Berliner Atonal-Festival – mit großen Videoprojektionen gepierceter Penisse schmückten, wankte auch das punkrockerfahrene Undergroundpublikum noch reihenweise würgend zum Klo. Ein Ring in der Eichel ging vielleicht gerade noch an – aber musste man mit einem Ring in der Eichel unbedingt masturbieren? Auch der Anblick sich vermischenden Spermas und Bluts wirkte auf viele Betrachter damals höchst irritierend.
Daran sieht man, wie sich die Zeiten ändern: Mittlerweile kann man mit solchen Bildern kaum noch für Aufsehen sorgen, und das Tragen von entsprechendem Körperschmuck ist gesellschaftlich mehr als nur akzeptiert. Aus der Avantgarde der autoaggressiven Erotik hat sich ein Schönheitsideal entwickelt, das heute von breiten Bevölkerungsgruppen geteilt wird. Verfolgt man die Geschichte dieser "body modification" bis zu ihren Anfängen zurück, wird man unweigerlich auf Genesis P-Orridge stoßen.
In musikalischer Hinsicht setzten Psychic TV die Klangexperimente von Throbbing Gristle fort, in freilich weniger aggressiver Weise, nun eher wieder hippiehaft und psychedelisch. Auf dem Album Dreams Less Sweet aus dem Jahr 1983 – das Coverfoto zeigt eine gepiercte Orchideenpflanze – arbeiteten sie mit dem Zuccarelli-Holophonics-System, einer Art immersiver Kunstkopfstereotechnik. In der Mitte des Jahrzehnts hatten sie mit einer Coverversion des Beach-Boys-Stücks Good Vibrations einen auch auf MTV rotierenden Hit. Zum Ende der Achtzigerjahre wurden Psychic TV mit Alben wie Jack the Tab – Acid Tablets Volume One und Tekno Acid Beat zu Pionieren des Acid House: Bevor die britische Jugend dazu auf Ecstasy und sonstigen chemischen Substanzen zu tanzen begann, erschufen Psychic TV eine frühe Variante des Genres, die sich am Besten nach dem Genuss von halluzinogenen Pilzen oder Stechäpfeln erschloss. Es handelte sich also gewissermaßen um dessen Ökoversion.
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Nach einem Intermezzo in Nepal, wo er eine Suppenküche betrieb, und einem in Kalifornien, wo er sich unter die Fittiche des LSD-Apostels Timothy Leary begab, übersiedelte Genesis P-Orridge Anfang der Neunzigerjahre nach New York und begann dort damit, seinen Körper umzubauen und sein Geschlecht zu verändern – spiegelbildlich zu seiner neuen Lebensgefährtin, der Domina Jacqueline Mary Breyer alias Lady Jaye. Beide ließen sich Implantate in Wangen, Kinne und Brüste operieren, um jeweils ihre weibliche und männliche Identität zu überwinden – "um miteinander eins zu werden in der Vereinigung der beiden Geschlechter", wie P-Orridge im Gespräch sagte. "Wir nannten das Pandrogynität: eine neue Stufe in der menschlichen Selbsterschaffung und damit der Evolution der Menschheit."
Für P-Orridge war dies zuvorderst auch ein emanzipatorisches Projekt zur Überwindung der überkommenen Maskulinität: "Stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, wenn es keine 'reinen' Männer mehr gebe … wenn Männer erst so aussehen wie jede/r andere auch, dann sind sie auch nicht mehr so aggressiv und territorial. Und stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, wenn Männer ihren Babys die Brust geben könnten! Warum soll nicht jeder einzelne Mensch alles haben können, das Weibliche und das Männliche, das Schwarze und das Weiße und so weiter? Warum soll man sich mit weniger zufrieden geben, als möglich ist?"
Lady Jaye starb im Jahr 2007. Danach führte P-Orridge, der sich nun Genesis Breyer P-Orridge nannte und mit dem geschlechtsneutralen Pluralpronomen "they" oder mit "s/he" anreden ließ, das Projekt allein fort und versuchte, durch das Erlernen von Voodooriten mit der Seele der Verstorbenen zu verschmelzen. Dokumentiert ist das etwa in dem Film Bight of the Twin aus dem Jahr 2016. Bei den letzten Konzerten, die man von ihm/ihr sehen konnte, erweckte P-Orridge – man kann es kaum anders sagen – einen betrüblichen Eindruck. Er/sie wirkte wie ein einsamer Zwilling, der nach einer verlorenen Einheit sucht. Den frühen Tod seiner/ihrer Lebensliebe, Lady Jaye, hat er/sie nie verwunden.